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Filmische Bewegung: Ursula Meier
Der Text ist ein Zusammenschnitt der Veranstaltung „Filmische Begegnung – Ursula Meier“ des Filmbüro NW an der FH Dortmund (BA Film & Sound, MA Film) am 24. und 25. Mai 2024. Dolmetscherin vor Ort Prof. Sandra Hacker, Transkription Anne-Louise Lambert, Übersetzung und Bearbeitung Marcus Seibert.
Marcus Seibert: Wie bist du zum Film gekommen? Du hast dazu nie etwas geschrieben.
Ich bin ganz und gar nicht durch das Wort zum Film gekommen. Auch nicht durch Literatur. Sondern durch Bilder, Töne, Körper. Ich habe immer Angst gehabt vor den Wörtern, deshalb mache ich Filme. Aber ich spreche heute immerhin über meine Überlegungen, meine Zweifel, meinen Weg. Der erste Film, den ich im Kino gesehen habe, war Die durch die Hölle gehen von Michael Cimino. Ich war damals acht. Eigentlich wollten wir in einen Kinderfilm, aber die Mutter einer Freundin hatte sich im Saal vertan und wir saßen in diesem großartigen Film mit dieser extremen Gewaltdarstellung. Sie hat gemerkt, dass sie sich vertan hat und wollte uns aus dem Saal lotsen, aber wir wollten nicht weg. Bei den allzu grausamen Szenen hat sie unsere Augen zugehalten. Ich gebe zu, das war eine Art Schock, diesen Film zu sehen, ziemlich traumatisch, eher ein physischer Eindruck. Ich habe auch als Zuschauerin eine Beziehung zum Film, die eher physisch oder organisch ist. Erst im zweiten Anlauf beschäftigt mich das intellektuell. Im Grunde funktioniere ich als Filmemacherin genauso. Ich werde von Bildern und Tönen durchdrungen und allmählich versuche ich nachzubohren und zu verstehen, worin diese Wahrnehmungen bestehen, diese Bilder, diese Sehnsüchte. Daraus versuche ich nach und nach eine Erzählung entstehen zu lassen. Der zweite Film, der mich wirklich geprägt hat, aber diesmal sehr bewusst, war Das Geld von Robert Bresson, den ich ebenfalls noch sehr früh im Fernsehen gesehen habe, mit etwa 15. Ich muss zugeben, die Geschichte habe ich null verstanden, aber ich habe die kinematographische Handschrift dieses Films verstanden, die Arbeit an den Bildern, den Tönen, dem Schnitt, mit den Darstellern, die alle keine Schauspieler waren und die so spielten, wie Bresson das in seiner Arbeit mit seinen ‚Modellen“ wie er sie nennt, anstrebt. Ich war durchdrungen von einem rein kinematografischen Gefühl, das sich nicht wirklich über die Geschichte vermittelte. Mein Wunsch Filme zu machen, ist im Anschluss daran entstanden. Ich habe die Cahiers du cinéma abonniert und habe angefangen, viel über das Kino zu lesen. Und später habe ich dann das Glück gehabt, bei einem Film meiner Schwester, die an der École des Beaux-Arts in Paris studierte, mitzuspielen. Sie ist heute Fotografin, hat aber mit Kino angefangen. Der Film war sehr Cassavetes, sehr Familie. Ich spielte darin mit, habe beim Szenenbild und Kostüm mitgemacht. Alle machten ein bisschen alles. Ich habe daraufhin sehr jung beschlossen, selbst einen Film zu drehen. Ich arbeitete zu dieser Zeit im Sommer als Kassiererin in einem Supermarkt in Genf. Mit meinem selbst verdienten Geld habe ich mir eine Kamera gekauft. Und die erste Einstellung des Films, die ich gedreht habe – also meine erste Einstellung überhaupt – war an der Kasse des Supermarktes, weil das die Geschichte einer Kassiererin war, aus deren Kasse Geld geklaut wird, was sie nicht bemerkt. Man hat sie selbst im Verdacht. Sie lässt daraufhin alles zurück und streift durchs französische Jura. Ich habe Agnès Varda erst viel später getroffen und ihr gesagt, wie sehr mein Projekt, mein erster Film ihrem Film Vogelfrei ähnelte. Sogar die Darstellerin ähnelte Sandrine Bonnaire, auch dieses Herumirren einer jungen Frau ohne Ziel, die sich aufmacht und alles hinter sich lässt.
In dem Film spielt mein Vater mit, eine meiner Schwestern, mein Bruder – wie der Film meiner Schwester ist er ein Familienfilm. Ich schrieb und am nächsten Tag drehten wir, das war sehr frei. Der Film sollte damit enden, dass sie festgenommen wird, aber ich bekam keine Drehgenehmigung für das Polizeikommissariat. Ich war Kamerafrau und der Ton der Kamera war nicht gut. So habe ich diesen Film nie fertiggestellt. Das ist mein erster Film, der nur für mich existiert und nie über den Zustand unvollständiger Rohaufnahmen hinausgekommen ist. Aber es ging darum herauszufinden, ob ich bei aller Liebe für den Film, bei aller Cinephilie auch wirklich Filme machen wollte. Das war danach für mich klar.
Ich habe dann den Schweizer Filmemacher Alain Tanner getroffen. Ich bin auf der französischen Seite bei Genf groß geworden. Direkt hinter der Grenze. Und ich wusste, er wohnt auf der anderen Seite. Freunde meiner Eltern waren Nachbarn von ihm und haben mir seine Nummer gegeben. Ich erinnere mich noch an diesen Anruf, bei dem ich natürlich sehr aufgeregt war: ‚Ich würde Sie gerne mal treffen.“ Und er hat geantwortet: ‚Gut“ und sich mit mir in einem Café verabredet. Und dann meinte er ‚Du musst die Schweiz hinter dir lassen. Mach eine Filmschule und komm dann wieder zurück.“
Das habe ich gemacht. Das ist der einzige Regisseur, für den ich zweite Regieassistentin gemacht habe, bei dem ich am Set eines Spielfilms war und sehen konnte, was es heißt, einen Langfilm zu drehen. Das war sehr wichtig für mich.
Marcus Seibert: Wie kam es zum Studium am IAD, dem Institut des Arts de Diffusion in Belgien? Gibt es da einen konkreten Grund?
Für die französischen Filmhochschulen braucht man ein Bac+2. Ich war einfach zu jung. In der Schweiz gab es die ECAL noch nicht. Also bot sich Belgien mit seinen renommierten Schulen IAD und INSAS an. Ich habe beide Aufnahmeprüfungen gemacht. Bei der INSAS lief die mündliche Prüfung nicht so gut und bei der IAD schon. Ich bin dahin gegangen, wo man mich genommen hat. Ich lebe immer noch teilweise in Brüssel, die Liebe zu dieser Stadt hat mich wie ein Blitz getroffen und die für die Belgier irgendwie auch. Als ich da hinkam, habe ich mich fast zuhause gefühlt, obwohl meine Mutter Französin ist, mein Vater Deutschschweizer. Belgien ist außerdem das Land des Surrealismus und es gibt etwas, das ich dort wiedererkannt habe: Meine Filme sind nicht realistisch. Das sind eher Parabeln, nicht selten surreal oder zumindest schräg und von einem schwarzen Humor, den ich wirklich in Belgien wiedergefunden habe. Ich war aber auch ein großer Fan von Dreyer und auch von Bergman, also von diesem eher nordischen Kino, das sind die eher ‚protestantischen“ Wurzeln meines Vaters. In Frankreich bin ich groß geworden und von dem Kino genährt worden, Truffaut, Pialat, Bresson, Eustache, Tati, Renoir… Und dann eben diese belgische surrealistisch schräge Mischung. Die Schnittstelle dreier Kulturen. In meinen Filmen ist die Frage des Territoriums stets sehr präsent. Das kommt sicher daher, dass ich an einer Grenze groß geworden bin, als Kind war ich fasziniert von diesem No-Man’s-Land zwischen der Schweiz und Frankreich, in das ich meine eigene Fantasie als Filmemacherin hineinprojiziert habe.
Ein Kritiker meinte, mein Abschlussfilm sei wie alle Abschlussfilme, die etwas auf sich halten, eine Hommage an das Kino, das mich beeinflusst hat. Sehr von Bergman geprägt, den ich zu dieser Zeit sehr verehrte. Und von Tarkowski. Ein Film, in dem ich nichts dem Zufall überlassen, alles kontrolliert habe und in dem kein Wort gesprochen wird, bis auf den Schluss, wo man nur ein ‚ach, da ist es…“ aus dem Off hört. Die Tonspur hatte ich wie eine Partitur geschrieben, also auch da versucht, absolute Kontrolle auszuüben. Und bei diesem Abschlussfilm, der ganz und gar kontrolliert war, hatte ich das Glück mit einem sehr alten Darsteller drehen zu können, Michel Vitold, selbst Theaterregisseur und Schauspieler. Er war sehr alt und krank, wusste das allerdings damals noch nicht. Dieser alte Mann, der fast das Gleiche durchlebte wie die Figur im Film, stand in der letzten Szene des Films auf und ging auf den Tod zu und plötzlich habe ich nichts mehr kontrolliert. Es ist ja gerade das Schöne, wenn uns, weil wir unbedingt alles kontrollieren wollen, etwas durchrutscht. Das habe ich bei diesem Film verstanden.
Mein Abschlussfilm hat mehrere Preise auf Festivals bekommen, darunter auch einen in Locarno von Kodak, der damals darin bestand, dass man Rohfilmmaterial bekam. Ich habe beschlossen, schnell einen nächsten Film zu drehen, der das Gegenteil meines Abschlussfilms sein sollte. Den Film habe ich selbst produziert unter Verwendung anderer Preise. Ich hatte eine Idee und zwei Wochen später habe ich Tous à table gedreht, das war noch vor den DogmaFilmen von Lars von Trier. In dem Film versuche ich, die gegenüberliegende Grenze zu erreichen, wie weit ich die Dinge ohne Kontrolle laufen lassen kann. Das Setting war ein großer Tisch mit einer Geburtstagsgesellschaft. Die Scherzfrage, um die der Film sich dreht, die habe ich auch mal in einer Gesellschaft von Freunden gestellt bekommen. Ich fand es damals irre, wie sehr die Antworten am Tisch auf dieses nicht wirklich ernst gemeinte Rätsel etwas über die Persönlichkeit der Antwortenden erzählten. Das ist mir in Erinnerung geblieben und ich dachte mir, das gibt doch einen super Kurzfilm.
Der Film war zwar in großen Teilen ausgeschrieben, aber irgendwann am Set hatte ich das Bedürfnis, bis zur Grenze zu gehen, bis zur Nicht-Kontrolle. Ich liebe das an Kurzfilmen, heute noch. Dass man da herumexperimentieren kann. Selbst Die Linie ist auf seine Weise ein Experimentalfilm. Diese Filme, werden allmählich immer schwieriger zu finanzieren sein. Beim Kurzfilm kostet das Experimentieren nicht viel, das gilt noch mehr für die Filme an der Filmhochschule. Wenn man an der Hochschule einen Flop produziert, dann ist das nicht schlimm. Ich ziehe einen Film, der wie ein UFO daherkommt, jedem Film vor, der irgendwie ok ist, wo aber nichts dahintersteckt.
Studierende:Wie war das für Dich nach der Hochschule? Wie hast Du Dich da finanziell über Wasser gehalten?
Ich glaube, ich habe wirklich Glück gehabt. Im letzten Jahr an der Hochschule mussten wir alle ein Praktikum beim Sender RTBF machen. Man konnte zu den Nachrichtensendungen oder zum Sport. Ich wollte zum Sport, weil ich das liebe. Wir waren nur zwei Frauen – damals gab es wirklich sehr, sehr wenige an den Filmhochschulen – allein mit fünfzehn Jungs. Als ich gesagt habe, ich will zum Sport, haben alle gelacht, auch der Typ von RTBF. Ergebnis: Alle hatten einen Praktikumsplatz, nur ich nicht. Aber das hat mich gerettet. Ich habe mein Praktikum bei einer Produktionsfirma gemacht und viele von denen, die beim Sender ihr Praktikum gemacht haben, sind beim belgischen Rundfunk geblieben. Ich habe später auch nie was nur fürs Geld gemacht. Ich habe Dokumentationen gemacht, weil man da in die Wirklichkeit eintaucht und nicht nur in der Phantasie bleibt. Und wenn ich das Thema interessant fand. Das war vielleicht naiv, aber ich hatte Glück, nicht in Panik zu verfallen. Es ist immer mein Drang zum Kino, der mich antreibt, nie Das Geld, heute noch.
Studierende: Wie bist du damit klargekommen, als du später nicht mehr das Feedback hattest, das man während der Ausbildung bekommt?
Schon an der Hochschule gab es so gut wie kein Feedback. Das hat mir damals gut gefallen. Ich finde, es ist extrem wichtig, mit der Leere und dem Nichts konfrontiert zu sein und nicht ständig Rückmeldungen zu allem zu bekommen. Auch Momente des Überdrusses oder welche, in denen man sich gehen lässt, sind gut. Es gab, wenn ich zurückblicke, auch einfach keine Professoren, die man wie einen Meister verehren konnte. Das finde ich sehr gut. Es gab nicht diese erdrückenden Figuren, keine festgelegte Vision von Kino. Ich habe die Hochschule als Labor benutzt, als Werkzeugkasten. Ich habe nicht erwartet, dass man mir Informationen an die Hand gibt. Als ich für meinen Abschlussfilm den Preis für das beste Filmprojekt bekommen habe, bedeutete das, mein letztes Jahr für die Mischung in einem der ersten digitalen Tonstudios in Brüssel zu verbringen, einem wirklich tollen Studio. Ich habe also mein letztes Studienjahr außerhalb der Hochschule verbracht und die Professoren kamen zu uns. Das war super.
Marcus Seibert: Das Gewaltexperiment, das Du in Deinem letzten Film Die Linie durchführst, lässt sich nicht von Die durch die Hölle gehen ableiten. Was war da der Ausgangspunkt für diese Geschichte einer Tochter, gespielt von Stéphanie Blanchoud?
Ich hatte einen Videoclip für sie als Sängerin gedreht. Daher stammte der Wunsch, mal einen Film zusammen zu schreiben, bei dem sie die Hauptrolle spielen würde. Wir waren uns ziemlich schnell einig über die Hauptfigur, eine erwachsene, gewaltbereite Frau und wir haben dabei festgestellt, dass es in der Filmgeschichte nicht viele gewalttätige Frauen gibt und wenn, dann sind das jugendliche Rebellinnen, und wenn es um erwachsene Frauen geht, gibt es immer ein soziales Thema, das sie gewalttätig werden lässt. Gewaltausübung wird nur als Konsequenz dargestellt. Wenn man sich Filme mit gewalttätigen männlichen Figuren ansieht, dann stellt man sich die Frage nicht, warum sie gewalttätig sind, sondern findet diese Gewaltbereitschaft sogar ein bisschen sexy. Das ist ein ganzer Kerl, der prügelt sich halt.
Wir haben deshalb lange Zeit im Schreibprozess versucht, keinerlei Erklärung für die Gewalt zu geben. Der Anlass für die Gewalt ist absichtlich banal, ein Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Ein Satz der Mutter, die ihre Töchter systematisch demütigt, über das Kleid der kleinen Schwester Marion, das zu sehr ‚spannt“. Marion ist in der Vorpubertät, sie fühlt sich nicht so gut in ihrem Körper. Ihre Schwester Margaret flippt aus. Sie ist für mich eine BorderlineFigur – lustig, dass der Begriff ‚Grenzlinie“ bedeutet. Man kann sich das gut bei ihr vorstellen, eine Bemerkung ihrer Mutter und paff, geht’s los. Wenn das ein wichtiges Ereignis gewesen wäre, das die Prügelei auslöst, würde das diese toxische Mutter und ihre komplizierte Beziehung zu den Töchtern erdrücken. Man würde die ganze Zeit auf diesen Auslöser der Auseinandersetzung blicken und als Zuschauer nicht mehr versuchen, hinter die versteckten Dinge in der Beziehung zur Mutter zu kommen, die man nicht sofort sieht.
Marcus Seibert: Ich habe gelesen, dass Stéphanie Boxerin ist.
Ja. Ich habe sie in ihrem Theaterstück „Ich bin kein Federgewicht“ gesehen. Da geht es ums Boxen. Sie spielt das allein. Und da gibt es auch diese Fragen nach der Gewalt, nach den Schlägen, die man austeilt und einsteckt.
Bei deinen Filmen spielen immer die Orte, die Schauplätze eine sehr große Rolle. Kannst du sagen, wie Du zu diesem Drehort gekommen bist? Dieser Siedlung mit Gewerbegebiet?
Am Anfang habe ich eine Landkarte gezeichnet. Ich habe mir die Geschichte an einer breiten Straße in einer Vorortsiedlung vorgestellt. Es sollte um die Wege auf dieser Straße gehen. Aber irgendwann ist mir aufgefallen, dass das eine Art amerikanischer Traum ist, weiträumige Vororte mit breiten Straßen, an denen Häuser stehen. Das gibt es in der Schweiz nicht. Ich habe dann in eine andere Richtung gedacht und versucht, einen Raum zu finden mit einem Haus in der Mitte und zu sehen, welche Orte man im Umkreis von 100 Metern um das Haus herum antreffen kann. Ich habe in dieser Gegend bereits zwei Filme gedreht, Winterdieb und den Fernsehfilm Des épaules solides. Ich kenne die Gegend sehr gut. Und mir hat dieser Kanal gefallen, der von sich aus gleich das Gefühl einer Grenze entstehen lässt, verstärkt durch die Umkreislinie, die im Wasser endet. Es gibt ja einige Länder, zwischen denen die Grenze tatsächlich ein Fluss ist. Mir gefielen die Züge, die ständig durchs Bild fuhren und die soziale Durchmischung im Umkreis von hundert Metern. Ich finde, es hilft dem Film, sozial nicht fest verankert zu sein. Er wird durch dieses Niemandsland zu einer Fabel. Und die Berge im Hintergrund, das ist schon besonders im Wallis. Wann hat man schon die Möglichkeit in einem Bild einen Kanal und Berge zu fimen? Ich habe mir den Film als einen ‚Bergmanschen“ Western gedacht. Und die Distanz zwischen Mutter und Tochter, die sich aus der Entfernung beobachten, habe ich in Gedanken an Clint Eastwood inszeniert. Daher habe ich mich auch mit meiner Kamerafrau Agnès Godard für CinemaScope entschieden.
Marcus Seibert: Ein Western mit komischen bis absurden Aspekten. Man hat den Eindruck, du suchst diese Brechungen.
Das stimmt. Auf jeden Fall versuche ich meinen Filmen immer etwas burlesk Tragikomisches einzuhauchen, je härter der Film ist, desto mehr. Und ich finde, dieser Film ist im Grunde sehr hart, speziell diese Beziehung zwischen Mutter und Tochter. Ich bin ein großer Fan von Buster Keaton.
Sandra Hacker: Die Eröffnungssequenz habe ich in dieser Form lange nicht mehr gesehen. Sehr beeindruckend. Wie ist das ausgedacht und gedreht worden?
Ich wollte sehr früh schon, dass diese erste Szene, in der Margaret ihre Mutter niederschlägt, wie eine Explosion daherkommt, wie der Urknall. Und dass sich danach die Wellen der Gewalt durch den Film fortsetzen. Und allmählich beruhigt sich das, die Gewalt hört einfach auf. Auch die Idee, diese Szene in extremer Zeitlupe zu drehen, hatte ich schon sehr früh. Ich wollte die Gewalt nicht roh zeigen, nicht realistisch, sondern sie durch die Darstellung quasi verherrlichen. Das ist die einzige Sequenz im Film, für die ein Storyboarder engagiert wurde. Wir haben sie auch als erste gedreht, damit jeder, ich, die Darstellerinnen, das ganze Team gleich diese Gewalt auch erlebt und davon imprägniert wird. Beim Schreiben war auch interessant, dass die Tochter danach durch das Verbot sich zu nähern aus ihrem bisherigen Leben herausgerissen wird. Wenn man schreibt, dann schreibt man ja oft Begegnungen von Figuren. Hier schafft die Tatsache, dass eine Figur auf Distanz gehalten wird, die Erzählung und nicht etwa eine Begegnung.
Studierende:Warum ist Die Linie blau? Hat das eine besondere Bedeutung?
Ich habe irgendwann ein Foto Von Agnès Godard zugeschickt bekommen. Sie saß gerade in einem Flugzeug auf Korsika und hat eine blaue Linie auf dem Rollfeld des Flughafens fotografiert. Sie hat einfach nur drunter geschrieben ‚die blaue Linie“. In meinen anderen Filmen, Home oder Winterdieb, da gibt es immer etwas kinematographisch Übergeordnetes. Der Rand einer Autobahn, es ist sehr laut, ein sehr visuelles Motiv. In Winterdieb die Skistation. Und in dieser Hinsicht ist der Film Die Linie riskant, weil er visuell nur auf einer blauen Linie aufbaut. Das hat mich ein paar Mal in Panik versetzt. Im Drehbuch stand auch anfangs, Margaret darf sich nicht näher als 200 Meter dem Haus nähern. Mit Agnes habe ich Tests gemacht, aber 200 Meter sind einfach zu weit weg. Am Ende sind es 100 Meter geworden. Das hängt auch damit zusammen, wie man in einem Kinofilm Entfernungen wahrnimmt. Mit welcher Brennweite man drehen muss, um hundert Meter sichtbar zu machen. Es geht da um die gesamte Kinematographie des Films. Grundsatzfragen des Kinos.
Marcus Seibert: Die Darstellerin der kleinen Schwester Marion hat, wie du sagst, noch nie vorher gespielt. Du hast auch in Home einen jungen Darsteller entdeckt. Generell spielen Kinderdarsteller in Familienkonstellationen, wie Du sie immer suchst, eine große Rolle. Wie funktioniert das, wie findest du sie und wie arbeitest du mit ihnen? Auch in so einem schwierigen Film wie hier jetzt, wo es eben so viel um Gewalt geht. Wie stellst du deine jungen Darsteller*innen richtig ein?
Als wir Home gedreht haben, war Kacey Mottet-Klein erst acht Jahre alt. Er hatte noch nie gespielt. Aber er hat mich sofort begeistert. Bei einem solchen Casting muss man sich einfach enorm viele Kinder ansehen und wenn man eins gefunden hat, dann fängt die Arbeit eigentlich erst an.
Bei der jungen Darstellerin der Marion ging das Casting schneller. Ich habe enorm Glück gehabt, weil sie wirklich ein Talent ist mit ihren 12 Jahren. Die Figur im Film sollte anfangs jünger sein, etwa 10. Ich hab sie gesehen und fand sie außergewöhnlich, hab ihr aber gesagt, dass sie eigentlich zu alt für die Rolle ist. Meine Casterin hat mich dann aber angerufen und meinte ‚Du bist doch total verrückt! Dann schreib die Rolle auf sie um, mach die Figur etwas älter.“ Und sie hatte Recht. Ich hab die Rolle also etwas älter gefasst und im Grunde ist das sogar interessanter, dieses Alter an der Grenze zwischen Kindheit und Jugend, gerade auch für diesen Film. Sie ist noch ein Kind, aber gleichzeitig zwischen beiden Zuständen, auf der Linie, gewissermaßen. Die schwierigsten Szenen für sie waren die Gesangsszenen und die Gebetsszenen, weil sie nicht gläubig ist, dabei hat sie sonst alles Mögliche einfach so gemacht. Aber singen, vor den anderen, da hat sie sich geniert. Zu den Gebetsszenen hat sie bei einem Q&A mal gesagt, wenn dieses ‚Bitte!“ ertönte, dann hat sie ganz fest an Gott geglaubt, dann war sie ganz von Gott erfüllt und mit dem ‚Danke!“ fiel der Glaube ganz von ihr ab. Oft werden Kinder für das gecastet, was sie schon sind, weil sie der Figur entsprechen. Ich habe im Gegenteil bei Kacey versucht, vielleicht am Anfang ein wenig naiv, ihn in gewisser Weise zu formen, also ihm nicht Sachen zu ‚stehlen“, sondern bei ihm ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, was es heißt zu spielen. Home ist ein sehr komplexer Film. Wir haben die Kulissen am Drehort gebaut, teilweise hatten wir bis zu 300 Autos mit Komparserie, das war also wirklich ein riesiges Studio unter freiem Himmel Da waren Stars wie Isabelle Huppert und Olivier Gourmet dabei. Wir mussten mehrere Takes drehen können, alles innerhalb der Markierungen, also sehr präzise. Die Arbeit bestand also darin, Kacey Werkzeuge an die Hand zu geben, damit er verstehen konnte, was spielen bedeutet, eine Figur zu verkörpern, damit man die gleiche Szene mehrmals spielen kann und gleichzeitig Frische und Spontaneität bewahrt.
Ein Kind ist erst mal ein weißes Blatt Papier. Man startet bei null. Kacey habe ich über Monate begleitet. Immer ein paar Stunden an Wochenenden oder Mittwoch nachmittags, damit er versteht, wie weit er gehen kann, damit er das von alleine in sich aufnimmt. Meine Präsenz hat ihn dann auch bei den Dreharbeiten beruhigt. Der ganze Aufwand war schon verrückt, aber es gab viele Familienszenen und man kann da noch so gute Darsteller wie Isabelle Huppert und Olivier Gourmet haben, wenn das Kind nicht richtig gewesen wäre, hätte man die Familienszenen nicht geglaubt.
Beim Kindercasting für Home habe ich alle gebeten, den schlimmsten Fluch rauszuhauen, den sie kennen. Man merkt dann direkt, wer sich selbst zensiert, wer sich nicht traut. Kacey fand das ganz toll, wirklich schreckliche Sachen zu sagen. Er hatte diesen Spaß am Spiel und das ist total wichtig. Er liebte die extremen Sachen. Schlimme Flüche, ganz spontan, direkt, unzensiert. Das war ein guter Anfang! [Gelächter] Ich habe ihn auch gefragt, was er gerne macht im Leben und er sagt: ‚Ich liebe es nachzudenken.“ Ich war erstaunt. Und er meinte dann, ‚ja manchmal sitze ich so da und denke.“ Und ich: ‚na dann los, dann denk mal.“ [Gelächter]. Und in der Tat sieht man, dass er denkt. Dann habe ich gefragt, woran und er meinte ‚An Di Caprio bei Titanic“, er liebt den Film. Das ist wirklich verrückt, weil man sieht, dass er denkt. Er spielt das nicht. Er denkt. Das war der Punkt, wo ich gedacht habe: Er hat verstanden, was Schauspiel bedeutet, man sieht ihn wirklich denken, der Kopf ist schwer, und man sieht das und er spielt das nicht.
Als ich mit ihm vier Jahre später gearbeitet habe bei Winterdieb, da war er unglaublich gut. Ein echter Schauspieler. Das ist so ein bisschen mein Antoine Doinel, wie bei Truffaut. Es ist schön, ihn heranwachsen zu sehen vor der Kamera. Und durch die Arbeit mit ihm habe ich selbst viel über Schauspielführung gelernt. Man hat nie Schauspieler vor sich, sondern Menschen. Ob das nun Isabelle Huppert ist oder ein Kind. Natürlich ist die Schauspielführung nicht die gleiche, man möchte ja jeden zu einem bestimmten Punkt bringen, aber was ist der direkteste und schnellste Weg dahin?
Marcus Seibert: Gab es von seiner Seite Widerstände gegen Spielszenen?
Nein, ihm gefiel das, an die Grenzen zu gehen. Es ging mehr um andere Sachen. Einmal hat er eine riesige Spinne gesehen und hatte totale Angst davor. Er wollte nicht mehr durch die Wiese laufen. Als ich das gehört habe, dachte ich schon ‚bitte nicht“, es waren Hundstage in Bulgarien, als wir dort gedreht haben. Aber dann habe ich diese riesige Spinne gesehen und dachte nur ‚Oh, mein Gott, ist die groß.“
Studierende: Wie plant man das, wenn man bedenkt, dass das Kind ja noch zur Schule geht. Er macht ja sicher noch andere Dinge gern und verbringt Zeit mit der Familie. Und was macht man, wenn die Proben nicht voran gehen, wie man vorgesehen hat?
Man geht auf jeden Fall ein Risiko ein, das ist klar. Und das kann man auch nicht kalkulieren. Aber ich habe Glück gehabt, auch dass es jedes Mal Eltern gab, die super waren. Man macht ja bei einem Kindercasting auch immer das Casting der Eltern gleich mit [Gelächter]. Und wenn die Eltern problematisch sind, kann das die Hölle sein. Ich lehne es ab, dass die Eltern ans Set kommen. Und Kacey wollte das übrigens auch nicht. Die Mutter war abends da, am Morgen, nur nicht tagsüber am Set.
Und die Arbeit mit Kacey vorher war übrigens auch nicht, dass wir das Drehbuch durchgearbeitet haben, sondern ich habe viele Sachen mit ihm aus dem Leben ausprobiert, sehr empirisch. Wir haben rumexperimentiert. Er hat niemals das Drehbuch in die Hand bekommen. Ich habe ihm am Set die Geschichte immer erzählt. Die Eltern kannten das Drehbuch, aber er nur teilweise.
Man kann Schauspieler sehr weit bringen, auch Kinder. Schauspieler lieben es, in ihrem Spiel weit zu gehen, auch Kinder. Aber dafür muss man am Set und vor allem nach den Dreharbeiten sehr präsent sein. Nach den Dreharbeiten für Home war ich quasi Kaceys Agentin. Ich las Drehbücher und riet ihm von Rollen ab. Nur bei dem Biopic über Serge Gainsbourg habe ich ihm empfohlen, die Rolle ‚Serge als Kind“ zu übernehmen. Und als Winterdieb in Berlin lief, haben Léa Seydoux und ich ihren Agenten überzeugt, Kacey zu vertreten, obwohl der Agent erst sagte, er nehme keine Kinder. Wir haben nur gesagt ‚Verstehen wir, aber Kacey nimmst du“. Das hat er gemacht. Und Elli Spagnolo, das junge Mädchen in Die Linie, treffe ich heute noch immer mal, ich bin auch immer noch sehr eng mit den Eltern. Ich hänge sehr an den jungen Darstellern und Darstellerinnen, mit denen ich gedreht habe und bin bis heute mit ihnen in Kontakt. Aber generell zu Proben: Die Proben gehen immer nur bis zu einem gewissen Punkt. Wenn ich spüre, dass das gehen wird, dann breche ich ab. Wenn von dem, was ich erreichen möchte, plötzlich innerhalb der Proben etwas sehr Starkes zustande kommt, dann ist das für mich dramatisch. Das heißt nämlich, dass sich das bei den Dreharbeiten nicht reproduzieren lässt.
Studierende: Du zwingst die Darsteller nicht, über ihre Grenze hinauszugehen.
Am Set schon ein bisschen, bis zu dieser Grenze. Mein Koautor und ich hatten beispielsweise totale Probleme, das Ende des Films Winterdieb zu schreiben. Es gelang mir einfach nicht. Dieser letzte Teil des Films leistete Widerstand. Ich hatte einige für die Rolle wirklich tolle Schauspielerinnen gesehen. Aber Léa drehte da gerade Mission impossible, wir haben deshalb noch ein wenig gewartet für ihr Casting. Sie war die letzte Schauspielerin, die ich gesehen habe. Aber ich habe sie wegen dieses einen Moments genommen, wo sie und Kacey nebeneinandersitzen. Wegen der Präsenz dieser beiden Körper, wegen dieser wenigen Sekunden habe ich mich für Léa entschieden, die damals noch nicht so bekannt war. Ich kam vom Casting und habe die Aufnahmen meinem Koautoren gezeigt und ihm gesagt, ‚Ich weiß nicht, aber Léa Seydoux entspricht nicht der Rolle, die wir geschrieben haben, aber gleichzeitig habe ich das Gefühl, sie könnte der Figur mehr Weite geben, mehr Komplexität, auch dunkle Seiten…“ und nur, weil wir die ganze Zeit an sie als Darstellerin gedacht haben, konnten wir den Film zu Ende schreiben. Das Casting hat mir geholfen, anders an die Figur heranzugehen und sie überhaupt erst zu verstehen. Winterdieb ist eben kein Sozialdrama. Durch Léa wird dieser Film sehr viel stärker zu einer Fabel. Es gibt da etwas Geheimnisvolles. Aber durch sie konnten wir uns vom Sozialdrama ablösen. Léa hat auch etwas altersmäßig Unbestimmbares, etwas Zeitenthobenes. Es ist nicht möglich, ihr ein genaues Alter zuzuschreiben, das war toll für die Rolle.
Marcus Seibert: Ich habe eine Frage zur Finanzierung. Ich war etwas erstaunt. Du hast Home in Bulgarien gedreht, aber Winterdieb und Die Linie in der Schweiz. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es sehr teuer ist, in der Schweiz zu drehen. Deine Produktionsfirma ist eine Schweizer Firma…
Ich liebe es wirklich sehr, in der Schweiz zu drehen. Es gibt ja jede Menge Klischees über die Schweiz, es ist also interessant, das Land anders zu filmen. Das ist noch nicht so oft gemacht worden. Außer von Alain Tanner. In der Schweiz drehen ist natürlich teuer, aber es gibt ja auch die Schweizer Förderungen. Und weil meine Filme majoritär schweizerisch sind in Koproduktion mit Frankreich, muss ich Geld in der Schweiz ausgeben. Ich erinnere mich noch an Winterdieb, der Dreh auf der Skistation war sehr teuer. Wir haben unten in der Ebene gewohnt, aber es war halt mitten in der Skisaison.
Was Bulgarien anbelangt, so haben wir in ganz Europa und sogar in Kanada einen passenden Drehort gesucht. Der Film spielt ja am Rande einer Autobahn. Bei der Entscheidung für Bulgarien ging es allein um den Ort, nicht um Das Geld. Wenn wir in der Schweiz hätten drehen können, hätten wir das gemacht.
Um den Film zu schreiben, musste ich in diesen Ort eintauchen, dabei hat mir der Ton sehr geholfen. Ich habe in der Tat während des Schreiben Tonaufnahmen von der Autobahn gehört! Ich hatte eine Archiv verschiedener Atmos von Autobahnen. Die haben wir auch bei den Dreharbeiten verwendet. Der Ort war sehr still. Die Straße war ja nicht in Betrieb. Wenn wir nicht in Richtung der Autos gefilmt haben, musste die Autobahn befahren wirken, auch damit die Schauspieler sich an die Lautstärke anpassen und entsprechend lauter sprechen. Oder wissen, dass sie sich nicht mehr hören können. Ich habe zum Beispiel das hier beim Schreiben gehört [man hört einzelne Autos schnell vorbeifahren]. Die ersten Autos. Der Normalzustand später, war dann eher so… [starker Verkehrslärm]. Das geht irgendwann auch in eine Art weißes Rauschen über [noch stärkerer Verkehrslärm]. Ferienanfang. Meine Nachbarn müssen mich für verrückt gehalten haben. Ich hab das den ganzen Tag gehört [Gelächter].
Sandra Hacker: Das ist ja Folter.
Ja. Als ich das Drehbuch geschrieben habe, dachte ich, das muss auf Dauer für die Zuschauer genauso unerträglich sein wie für die Figuren und deshalb habe ich ein paar Nachtszenen geschrieben, als Klangpausen wie in einem Musikstück. An einer Autobahn ist ja ununterbrochen Lärm. Außer nachts und bei Staus.
Der Drehort war etwa eine Stunde von der nächsten Stadt entfernt. Es gab keinen Strom, kein Wasser, nichts. Als wir das zweite Mal dort waren, haben wir uns alles genau angesehen, auch schon die Kamerafrau. Während die Szenenbildner die Abmessungen für das Haus festgelegt haben, bin ich durch den Tunnel geklettert. Aber als ich zurückkam, habe ich nur gesagt ‚das Haus ist viel zu weit weg, das muss direkt an der Autobahn stehen.“ Das fanden sie zu nah, aber ich habe darauf bestanden: Genau darum geht es im Film. Der ganze Film beruht auf den wenigen Metern Abstand der Mauern zur Autobahn, sonst geht die ganze Spannung, die ganze Aggressivität verloren. Wie bei Die Linie und den hundert Metern Abstand, geht es in diesem Film um die paar Meter Abstand zur Autobahn.
Das Haus, der Garten, selbst der Gemüsegarten, alles wurde angelegt. Die Straße war schon sehr breit, aber in sehr schlechtem Zustand, was für den Anfang des Films perfekt war. Wir haben dann in eine Autobahn verwandelt!
Die Form des Hauses festzulegen, das hat sehr viel Zeit in Anspruch genommen, weil das Haus sich ja in die Landschaft einfügen und es gleichzeitig so einen klaren Bruch mit der Autobahn geben sollte. Deshalb sind wir ein wenig auf so eine Tankstellenähnliche Form gekommen. Das passt sich besser ein. Der Grundriss ist absichtlich schräg gestellt zur Autobahn, was ja auch erzählen soll, dass es schon vor dem Bau der Autobahn da war.
Es gab auch die Frage, wie ich das drehe, wenn die Autobahn in Betrieb ist. Dann kann ich ja nicht mehr von dort filmen. Die Autobahn wird ein unüberwindbares Hindernis. Wo stelle ich dann die Kamera hin? Jenseits der Autobahn? Das waren spannende filmtechnische Fragen. Hier zeige ich noch das Foto von Jeff Wall, ‚Insomnia“ (1994) [eine Küche mit einem altmodischen grünen Wandschrank und Gasherd. Ein Mann liegt auf dem grauen Fliesenboden]. Ich war so fasziniert von dem Foto dieses kanadischen Fotografen, dass ich den Szenenbildner gebeten habe, sich davon für die Inneneinrichtung inspirieren zu lassen. Wie weit diese Inspiration gegangen ist, erkennt man sogar noch auf dem Filmplakat. Seit Langem orientiere ich mich eher an der Fotografie oder der Malerei als Quelle für meine Imagination, als am Kinofilm. Ich sehe sogar absichtlich Filme nicht, die einem Film, den ich gerade machen möchte, nahe sein könnten. Ich beschäftige mich mit Dingen, die weit weg sind von dem, was ich mache.
Aber das war schon der reine Wahnsinn. Mein erster Film! Alles drin, wovon man für einen ersten Film abrät: großes Budget, bedeutende Schauspieler, Kinder, Tiere, Autos…
Der Text ist ein Zusammenschnitt der Veranstaltung „Filmische Begegnung – Ursula Meier“ des Filmbüro NW an der FH Dortmund (BA Film & Sound, MA Film) am 24. und 25. Mai 2024. Dolmetscherin vor Ort Prof. Sandra Hacker, Transkription Anne-Louise Lambert, Übersetzung und Bearbeitung Marcus Seibert. Vielen Dank an Sandra Hacker, Gudrun Parzich, Lisa Roelleke, sowie Susanne Meier und Andreas Ehrhard vom Dortmunder U.
Veröffentlicht in Revolver – Zeitschrift für Film, Heft 51, Frankfurt am Main, 4.11.2024, www.revolver-film.de