Im Rahmen des dfi-Symposiums DOING TIME zeigt die Dokumentarfilminitiative zwei Filme von Thomas Heise und…
Michael Braun. Ein Nachruf.
Michael Braun, der am 16. Dezember im Alter von 77 Jahren starb, war Mitbegründer und Mitglied des ersten Vorstands vom „Filmbüro Nordrhein Westfalen e.V.“, wie es sich damals ausweislich des Briefbogens selbst schrieb. Auf den Fotos der Pressekonferenz von September 1980, als der Vorstand den neuen Verein vorstellte, sieht man Michael am rechten Rand zwischen Dorothea Neukirchen und Manfred Vosz sitzen. Ob er damals jene Lederjacke trug, die ihn lange Jahre seines Lebens begleitete, kann man leider auf den Fotos nicht erkennen, aber erahnen. Wer ihn damals erlebte, begegnete einem jungen Mann von 33 Jahren, den ein ungeheures Selbstbewusstsein auszeichnete. Ihm machte niemand etwas vor, und vor Politikern und Funktionären hatte er weder Ehrfurcht noch Respekt. Er war gleichsam der Rocker unter den oft feingeistigen Regisseurinnen und Regisseuren, die diesen filmpolitischen Verein gründeten, der ohne die erste Geschäftsführerin Rosemarie Schatter allerdings kaum lebensfähig geblieben wäre.
Michael war in seiner Kindheit und Jugend viel herumgekommen, da sein Vater als Schauspieler und Regisseur regelmäßig die Bühnen der Bundesrepublik wechselte. Das Theater und seine Arbeitsweisen waren ihm also von Kindheit und Jugend an vertraut. Die längste Zeit verbrachte er wohl in Karlsruhe, wo er in jungen Jahren an einem Veranstaltungsort namens „Laboratorium“ beteiligt war, in dem Jazz-Konzerte und Dichterlesungen stattfanden. Ende der 1960er-Jahre lebte er in West-Berlin, wohin es ihn wegen des Studiums verschlagen hatte. Hier begriffen sich weite Teile der Jugend als revolutionär und setzten sich gegen die Willkür von Polizei und Springer-Presse zur Wehr.
Michael war Teil der politischen und sozialen Bewegungen, die sich für die Revolutionäre in Lateinamerika einsetzten und gegen den Vietnam-Krieg protestierten. Anders als andere beließ er es nicht mit Gesten und Kostümierungen. Ihn selbst zog es eine Zeit lang in jene lateinamerikanischen Länder, in denen eine Guerilla für den Fortschritt (wie immer, der auch ausgesehen hätte) kämpfte. Zeit seines Lebens interessierte er sich für die dortigen Entwicklungen.
Als die bundesdeutsche Protestbewegung Ende der 1960er-Jahre erstarrte, kam es zu einer Reihe von Parteigründungen, die – wie in einer Maskerade – die linksradikale Politik der Weimarer Republik nachahmten. Michaels Verein, dem er mehrere Jahre angehörte, hieß KPD (ML). (ML meinte Marxismus-Leninismus, dem allerdings auch andere dieser Parteien die Treue geschworen hatten.) Um der Arbeiterklasse nahe zu sein, die es nun zu revolutionieren galt, siedelte sich diese Partei im Ruhrgebiet an. Und so kam Michael erst nach Bochum, später nach Dortmund. Als die revolutionäre Phase überwunden war, arbeitete Michael an Bühnen und bei Konzerten mit. So war er führend daran beteiligt, als es im Vorlauf der Ruhrfestspiele 1977 in Recklinghausen ein großes Volksfest für junge Leute gab, auf dem auch Rockgruppen auftraten. Drei Jahre lang leitete er das Junge Forum der Ruhrfestspiele. Gleichzeitig arbeitete er als Autor und Regisseur für den Hörfunk des WDR – etwa für die legendäre „Radiothek“.
Als 1978 Jahr Adolf Winkelmann, der mittlerweile in Dortmund lebte und dort die nach ihm benannte Filmproduktion gegründet hatte, seinen ersten Spielfilm „Die Abfahrer“ drehte, war Michael als Produzent beteiligt. Auch bei den folgenden Spielfilmen von Winkelmann arbeitete Michael als Herstellungsleiter mit. Der wie ein Rocker wirkte und auf den ersten Blick als Chaot erschien, war ein begnadeter Kommunikator, der ein Team nicht nur zusammenhalten, sondern auch zu besonderen Leistungen anstacheln konnte. Er erlebte so den raschen Aufstieg dieser Ruhrgebiets-Filmproduktion mit, was gewiss auch zu jenem
Selbstvertrauen beigetragen hat, das Michael Braun, aber auch Adolf Winkelmann bei Gründung des Filmbüros NW 1980 zeigten.
Er selbst hatte für Winkelmanns Firma mittlerweile eigene Dokumentarfilme realisiert, die im Auftrag der umtriebigen Jugendredaktion des WDR Fernsehens (Leitung: Peter Rüchel) entstanden. So lief auch sein Film „Diso is Disco“, der im Dezember 1979 in der ARD ausgestrahlt wurde, auf der Duisburger Filmwoche und wurde dort heftig diskutiert. Das Protokoll der Diskussion verfasste der Filmhistoriker und Publizist Klaus Kreimeier, der im September ebenfalls starb. (Alle Duisburger Protokolle sind unter protokult.de nachzulesen.) „Disco is Disco“ erhielt 1980 eine „ehrende Anerkennung“ beim Grimme-Preis in Marl. Dieser Dokumentarfilm wie weitere, die folgten (Redaktion jeweils: Christiane Schäfer), zeichnen sich dadurch aus, dass Michael nicht der geduldige Beobachter war, der von Außen eine Szenerie, eine Gruppe oder soziale Verhältnisse beobachtete. Stattdessen bewegte er sich demonstrativ in die ihm fremden Welten hinein, suchte vor der Kamera deren Riten und Gebräuchen zu erlernen, um so das ihm Fremde zu verstehen. So legte er für „Disco is Disco“ in einer legendären Szene die Lederjacke ab und zog einen jener feinen Anzüge an, die in Folge des Kinofilms „Saturday Night Fever“ (1977) Mode geworden war.
Näher als die Disco-Szene war ihm da schon die Fußball-Welt des BVB oder Außenseiter wie Duisburger Punks oder Ruhrgebiets-Kiffer, die er alle in nachfolgenden Filmen porträtierte.
Legendär wurde die „Michael-Braun-Show“, die er in den 1980er-Jahren für das WDR Fernsehen moderierte. Sie war die erste Cover-Version der „Letterman-Show“ der NBC, in der der Moderator seine Gäste am Schreibtisch sitzend empfing und mal freundlich, mal robust mit Fragen traktierte, und die später viele andere wie Harald Schmidt nachahmten.
Bei Michael trat zum ersten Mal Herbert Feuerstein im deutschen Fernsehen auf, in dem er später selbst eine große Karriere absolvierte.
Mitte der 1980er-Jahren lebte und arbeitete Michael wieder in Berlin. Er war in die von Richard Claus und anderen gegründete Firma „Delta“ eingestiegen, die Spielfilme produzierte, aber auch selbst verlieh. In diesem Zusammenhang arbeitete Michael auch beim letzten Film des US-Regisseurs John Huston mit, der 1987 den Roman „The Dead“ von James Joyce verfilmte. Spuren dieser Mitarbeit findet man an einem ungewöhnlichen Platz, nämlich im Buch „Der Kampf geht weiter!“ von Harry Rowohlt, in dem der Autor, Schauspieler und Übersetzer „nicht weggeschmissene Briefe“ – so der Untertitel – 2003 versammelte. Im Personenregister findet man den Namen Michael Braun auf Seite 459 zwischen denen von Willy Brandt und Bert Brecht. (Das hat ihm, der nicht uneitel war, durchaus gefallen.) Michael hatte Rowohlt engagiert, die Dialogliste des Films ins Deutsche zu übertragen, um für den Delta-Filmverleih eine deutsche Synchronfassung herzustellen.
Während Rowohlt im ersten Brief seinen Auftraggeber noch siezt, duzt er ihn im zweiten, der mit den Worten schließt „Hoch die internationale Solidarität! Harry Rowohlt“. Das wird Michael gefallen haben.
Als das ambitionierte Delta-Unternehmen krachend Konkurs ging, wechselte Michael nach Köln, wo er in den nachfolgenden Jahren als Produzent für das Fernsehen tätig war. Er war so an vielen Unterhaltungssendungen des WDR, aber auch des Privatfernsehens beteiligt.
Auf der Höhe des Erfolgs, der ihn bestens leben und genießen ließ, warf ihn ein schwerer Unfall aus der Bahn. Monatelang konnte er nicht arbeiten und nur mühsam fand er in seinen Beruf zurück. Dabei halfen ihm Freunde so, wie er selbst immer wieder Menschen, die in Not geraten waren, ohne groß Fragen zu stellen, half. Und erneut eroberte er neue Felder in der Film- und Fernsehproduktion. So war er an großen Kinder-Animationsfilmen, die für das Kino entstanden, als Regisseur der Tonfassungen beteiligt.
Eher unbekannt blieb seine Tätigkeit an der Kunsthochschule für Medien Köln (KHM). Hier war er eingesprungen, als sein Freund Michael Lentz, dessen Professur im Alter von 70 Jahren (!) noch einmal verlängert worden war, ohne Assistenz dastand. Den älteren Lentz verband mit dem jüngeren Braun unter anderem das Skatspiel. Legendär waren ihre wöchentlichen Kartenabende im „Roten Ochsen“, bei denen kräftig gezecht wurde. In der KHM half der eine Michael dem anderen und zusammen veranstalteten sie so fidele
Seminare. Mit den Studenten lieferte Michael Braun sich manches Wortgefecht, wenn er ihre Projekte mit einer Schärfe kritisierte, die jene in der Hochschule nicht gewöhnt waren.
Umgekehrt blieb er den Projekten treu, die man ihm anvertraut hatte. So betreute er als Prüfer beispielsweise 2003 den Film „Solo Ultra“ von Erik Winker mit, der Fans von Eintracht Frankfurt porträtiert.
Michael blieb Zeit seines Lebens Fan des BVB, der wie kein anderer über Niederlagen fluchen und sich über Siege freuen konnte. Trainer entließ er auf der Fan-Tribüne wie vor dem Fernsehgerät schon nach den ersten Niederlagen, wie er Talente in den Himmel hob, wenn sie das erste Mal ein Tor schossen. Dass er 2013 seinen Verein im Endspiel der Champions League im Londoner Wembley-Stadion erlebten durfte, davon erzählte er später immer wieder gerne.
Dass er, den es immer wieder in die Welt hinausgezogen hatte und der durch Asien gestreift und durch Ozeanien mit dem Schiff gefahren war, in seinen letzten Lebensjahren aus vielerlei Gründen nicht mehr reisen konnte, hat ihn mehr getroffen als der Verlust eines gewissen Lebensstils, zu dem etwa die regelmäßigen Besuche bei „Luciano“ in der Marzellenstraße zählten. Michael hatte in seinen Lebenskrisen viel Geld, das er im Alter hätte brauchen können, verloren. Aber darüber klagte er nicht. Er klagte vielmehr über die
soziale Isolation, die mit seinen körperlichen Einschränkungen einherging. Ihm, dem umtriebigen Kommunikator, der seinen Charme so spielen lassen konnte wie die besten Fußballspieler den Ball, fehlten die Gespräche über alles und jenes. Ihm, der so gerne von seinen Reisen und Projekten erzählte, fehlten nun die Erzählungen der anderen. Er, der mit seinem Witz und seiner Chuzpe so viel Lebensmut und -lust verbreitet hatte, verlor zusehends selbst die Lust am Leben. Nicht Altwerden sei Scheiße, sondern Altsein, sagte er.
Michael war – das sei nicht verschwiegen – im täglichen Umgang nicht immer einfach. Er konnte im Streit über die Stränge schlagen und Menschen verletzten. Aber solche Auseinandersetzungen taten ihm rasch leid. Sichtlich berührt entschuldigte er sich, wenn er merkte, dass er da gefehlt hatte. Befreundet blieb er so mit vielen, die ihn nun vermissen.
Michael Braun starb am Abend des 16. Dezember 2024.
Ein Nachruf von Dietrich Leder